Mission RATA 2015 erfüllt. Übererfüllt!
Ich bin zurück in Freiberg. Kein Alpenpass weit und breit. Nein, nur Berthelsdorf im Erzgebirge. Ganze 90 Hm am Stück, aber genau das richtige für den Kopf. Es ist ein noch immer anhaltender Traum, während ich hier diese Zeilen tippe und mir zwischendurch immer wieder die Bilder, Videos und Kommentare im Internet anschaue, um zu realisieren, ob das ganze wirklich geschehen ist und vorallem was da geschah.
Fangen wir am besten ganz vorn an. Nein, nicht im Jahre 2009 als ich mein erstes Rennrad kaufte, sondern vor gut einem Jahr, als die Entscheidung in mir reifte, das RATA in Angriff zu nehmen. Das war wohl im April oder Mai 2014 gewesen. Im Juni waren wir mit den Elbspitzjungs im Radurlaub in Eppan. Auf der Rückfahrt nahmen wir noch den Dreiländergiro in Nauders mit. Auf der Autofahrt dorthin überholten wir vormittags am Reschenpass den Sieger Daniel Rubisoier, der gerade auf seinen letzten Kilometern war. Gänsehautmomente. Weniger wegen dem großen Trubel bei der Zieleinfahrt und Siegerehrung, als vielmehr weil da einer fast 24 Stunden mit purer Leidenschaft durch die Alpen fährt und seine persönliche Geschichte schreibt, von der doch die meisten gar nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt.
Am darauf folgenden Tag stand ich beim Dreiländergiro am Start. Der erste Radmarathon mit einem stark besetzten Feld. Ich konnte Platz 9 erreichen, obwohl ich gesundheitlich angeschlagen war und das ganze eher spaßig als höchst ambitioniert angegangen war. Aber ich wusste fortan, wo ich ungefähr stehe und was ich kann. Das ich auch Ultralangstrecke kann, war aber noch nicht ganz klar. Zwar bin ich bereits dreimal die Elbspitze gefahren, immerhin geht es da über 640 bis 750 km und 10000 bis 11000 Hm in vergleichbaren Größenbereichen zu, aber die Fahrweise ist doch anders. Mehr Gruppenfahrt, feste Pausenzeiten und dafür ein Dutzend scharf gefahrene Bergwertungen zwischen dem Erzgebirge und den schwersten Alpenpässen.
Im Winter begannen die konkreten Vorbereitungen für das RATA 2015. Eine Marschtabelle war schnell erstellt. Als Watt und Zahlenjunkie war dann auch schnell eine 22 Stunden Zeit für das RATA berechnet. 185 Watt im Schnitt klangen irgendwie machbar, die Zeit dafür aber ambitioniert. Die äußeren Bedingungen und mögliche Zwischenfälle natürlich alles schwer berechenbar. Zudem die Finisherquote ähnlich schlecht wie bei der Elbspitze. Von daher wussten nur wenige Personen von dem 22 Stunden Ziel. Ich wollte mir nicht unnötig Druck machen und auch schien es als Neuling ein wenig verwegen von solchen Zielen zu sprechen, wo doch auch immer genug erfahrene Sportler das Ziel beim RATA nicht sehen. Das Training begann im Winter. Rennrad, solange kein Schnee liegt und die Straßen frei sind. Sonst Rolle, Laufen, Schwimmen und ein bisschen Skilanglauf. Aber alles dosiert und im rechten Maß. Leichte Erkältungen gab es nur im Winter, ansonsten funktionierte der Körper wie ein Uhrwerk.
Ab März spulte ich pro Monat um die 2000 km ab. Die Form entwickelte sich prächtig und nach der ersten Standortbestimmung beim Bergzeitfahren in Krupka war klar, dass ich nun im 7. Rennradjahr noch immer schneller wurde. Da standen 346 Watt über gut 18 Minuten auf dem Garmin. Klingt nicht viel, aber bei 61 kg schon ein ziemlich guter Wert als „Hobbylusche“, auch wenn das nicht mal zum Sieg reichte.
Die Intervalle an der Schwelle wurden nun länger. VO2max-Einheiten wurden als intensivste Intervallform eingestreut, gleichzeitig die Umfänge noch ein bisschen gesteigert und am Ende nochmal bewusst Tempoeinheiten gefahren. Alles für einen geringen Leistungsabfall und einen großen aeroben Motor. 8 Einheiten um oder über 200 km standen letztendlich diesjahr zur Buche. Die längste davon gut 350 km lang. Auf diesen Strecken testete ich immer wieder die Ernährung. Flüssig, einfach und bezahlbar für einen Studenten musste es sein. Ich schaute, was die Sportgetränkehersteller so in ihren Langstreckenpulvern zusammen mixten. Stärke, Maltodextrin, Fructose, Glucose und noch ein paar Zusätze, wo es mir dann zu kompliziert wurde. Also testete ich mit handelsüblicher Speisestärke, Maltodextrin 19, Fructose, Salz und verschiedenen Säften die Mischungsverhältnisse durch. Das war unkonventionell, klappte aber prima und ich hatte schnell eine gute Mischung gefunden. Ich möchte daraus auch gar kein großes Geheimnis machen. 35 g Stärke, 35 g Maltodextrin, 20 g Fructose, dazu jeweils 5 g Fructose und Glucose aus Ananas- oder Orangendirektsaft sollten den Dieselantrieb auf Langstrecke stündlich befeuern.
Damit befinden wir uns auch schon mitten im RATA. In Prato, wo die erste Flasche nach einer Stunde generalstabsmäßig geleert wurde und mein Team Funkkontakt mit mir aufnahm. Alles bestens. Thomas Stimme im Ohr immer beruhigend. Das Begleitauto an zweiter Postion direkt hinter der Karre von Grande Omar. Erste Gänsehautmomente. Vorn knallte Paul schnell ins Stilfser Joch, Dizzy hinterher, danach Omar. Jürgen, Roman und ich folgten etwas gemäßigter. Es war heiß und der Puls ging ziemlich hoch. 170 bpm wollte ich eigentlich nicht fahren, aber es fühlte sich richtig gut in den Beinen an. Ich pendelte mich bei 250 bis 260 Watt ein. Jürgen fuhr etwas zügiger und verschwand aus dem Blickfeld. Roman und Omar hingegen machten keinen so frischen Eindruck und schienen auch mit der Wärme etwas zu kämpfen.
Ich kurbelte meinen Stiefel herunter: Konstante Leistung bis oben. Eine höchst leidenschaftliche „Looking at the stem“- Fahrweise. In den Flachpassagen konnte ich dadurch Roman und Omar abschütteln und Jürgen kam mir auch wieder näher. Auf den letzten 500 Hm vom Stilfser Joch wurden die Temperaturen angenehmer. Immer wieder Anfeuerungen über den Funk vom Team und von der Strecke, wie zum Beispiel von Beny und Corinne Furrer oder Nadja Prieling, die alle das RATA schon beenden konnten. So macht das Spaß und ich schloss bald zu Jürgen und Ralph auf.
Eigentlich wollte ich mit beiden über die Passhöhe fahren, aber das Tempo war einfach etwas unter meinem Wohlfühlbereich und ich konnte bis zur Passhöhe fast noch auf den Pauli aufschließen, dermit seinen 52 Jahren noch immer einen unglaubliche Spirit besitzt und nur Vollgas kennt.
Da Paul sein Rad am Stelvio wechselte, war ich in der Abfahrt bereits in Führung. Ein Wahnsinnsgefühl. Nun folgte ein langer unbekannter Streckenabschnitt, der bis Zernez andauern sollte. Abwechslung für den Kopf, aber unbekannte Abfahrten fährt man vernünftigerweise etwas langsamer, wenngleich ich oft auf den Garmin schaute und so bergab immer gut über die nächsten Kehren informiert war. Jürgen und Ralph schlossen bergab wieder zu mir auf. Zu dritt standen wir in Bormio an der roten Ampel. Als plötzlich grün wurde, kam Roman mit Schwung von hinten vorbei geschossen. „Wo kam der denn her“??? Ein echter Rennfahrer, der es bergab wohl etwas mehr krachen lässt.
Richtung Gavia konnten wir eine 4er Gruppe formieren. Die Stimmung war bestens. Ich nuckelte derweil fleißig an meiner dritten Flasche mit der Kohlenhydratplempe, die mir Alex in der Schweinekarre immer per Messbecher und Schneebesen zusammen mischte und Jens fleißig Protokoll führte, dass ich ja nicht zu wenig von dem „leckeren“ Gebräu aufnahm. 230 Watt und 89 Minuten war der Plan für den Gaviaaufstieg. Mit 236 Watt kurbelte ich zum Gipfel und konnte mich abermals in Flachstücken von der Gruppe lösen und erreichte nach 84 Minuten den Gipfel.
„Boah, läuft das prächtig hier“, dachte ich mir. Keine Spur von den Strapazen eines Ultrawettkampfes. Eher Spaß, Lockerheit, ein traumhaftes Bergpanorama und Unterhaltung vom Liveticker aus dem Elbspitzforum. Schon sehr genussvoll das ganze. Die Abfahrt mit ihren schlecht einsehbaren Kurven eher weniger.
Aber auch das war schnell gemeistert und Richtung Ponte di Legno schloss die Schweinekarre wieder auf. Nun sollte eigentlich ein Bergabstück bis Edolo folgen. Der Wind stand aber ungünstig und ich war mir sehr unsicher was ich machen sollte. Warten auf eine Gruppe oder alleine etwas härter in de Pedale drücken. Ich wählte letztere Variante, sie bot sich eben einfach an. Flach auf dem Lenker liegend, versuchte ich effizient zu fahren. Erste Infos vom Tracking sickerten durch. Meiner schien, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu funktionieren. Hinter mir Roman und Jürgen. „Abstände aber noch nicht groß“, tönte es über Funk. Wichtiger war mir aber zu hören, dass es keine Gruppe hinter mir gibt und scheinbar alle allein unterwegs sind. Ich zweifelte: „Gab mir Thomas hier bewusst eine Falschinformation, um mich zu stärken oder war es wirklich so?“ Zeit zum Nachdenken war reichlich vorhanden. Aprica rollte gut. 40 min. „Yes, wieder 3 Minuten schneller als der Plan“. Einige Fans am Streckenrand sorgten für gute Stimmung. Der Langstreckenflash setzte ein. Die Sache läuft. Tresenda, Tirano. Rückenwind. „Jungs ich habe hier nach 200 km einen 30er Schnitt auf der Uhr stehen“, musste ich über Funk verkünden. Vorm Mortirolo die erste Pause. Die Blase drückte. Thomas meinte, ich soll die Brühe einfach laufen lassen. Haha, nein, die Zeit muss auf so einer Strecke schon sein. Ich stand am Fuße des gefürchteten Mortirolos.
Doch ich freute mich wahnsinnig auf den Berg. Steiler als 25%ige Riesengebirgsrampen wird er schon nicht sein. Außerdem besitze ich mit meinen 60 kg Kampfgewicht einen gehörigen Vorteil an solchen Anstiegen und sollte da auf die Konkurrenz Zeit herausfahren können. So kam es auch. Die Auffahrt gestaltete sich als kurzweilig. Rennleitung und Schweinekarre sorgten für genügend Abwechslung und die untergehende Sonne sorgte für eine schöne Bergszenerie. Es war kurz vor 21 Uhr als ich den Gipfel erreichte. Erstmals runter vom Bock. Alex montierte vorn die Piko und hinten das Rotlicht. Der Garmin wurde gewechselt. Beinlinge angezogen und Thomas rosafarbenes Rapha Gilet gab die nötige Sicherheit für die kommenden Nachtstunden. Bis Aprica war es aber noch ausreichend hell. Ich erfuhr, dass laut Tracking bereits die ersten Überrundungen anstehen. Das motivierte mich zusätzlich. Mittlerweile schien auch mein Tracking zu funktionieren. Alles, aber wirklich alles lief perfekt bis dahin. In Tirano merkte ich aber, dass die 190 Watt nicht mehr so einfach zu treten sind und nahm in Hinblick auf den Bernina etwas raus. Der Kopf wankte und war nicht mehr fokussiert genug. Zweifel machten sich breit, verdrängten die Zuversicht. Dann zog der Gernot Weinig noch unser Bertreuerauto aus dem Verkehr. Ich hatte schlimmste Befürchtungen, er sah beim schnellen vorbei fahren irgendwie zornig aus. Hoffentlich keine Zeitstrafe, aber ich vertraute darauf, dass wir uns in allen Belangen an die Regeln gehalten hatten. Als die Schweinekarre im Bernina wieder aufschloss, bekam ich die Mitteilung, dass nur mein Tracking-Smartphone unbedingt geladen werden müsse. Ich hatte aber keinen Nerv anzuhalten und fuhr weiter, wurde aber immer langsamer und kämpfte. Die erste Schwächephase. Ich teilte Thomas mit, das es gerade nicht laufen würde und keine Leistung mehr kommt. Tja, machen konnte auch er nichts dagegen. Ich solle mehr von meine Kohlenhydrat-Plempe trinken und das Flachstück am Stausee komme auch bald. Ersteres war einfach gesagt, aber nurmehr schwer umzusetzen nach fast 11 Stunden immer der gleiche Plörre mit Ananasgeschmack. Bernina, also der Scharfrichter. Etwa auch für mich? Natürlich kamen Gedanken an das Aufgeben. Selbst, wenn der Kopf im Moment sehr schwach war, bin ich vom Kopf her so eingestellt, dass ich nicht wirklich aufgeben kann, solang es keine triftigen Gründe gibt. Außerdem, lag ich in Führung. Was sollen da die anderen sagen, denen geht es wahrscheinlich ähnlich dreckig. Jürgen Pansy musste vermutlich schon aufgeben, bekam ich mitgeteilt. Mittlerweile war wohl Walter „Sägewerk“ Sageder mein engster Verfolger. Der Abstand schrumpfte. Aber es kam auch bei mir nach Ende vom Flachstück wieder etwas mehr Druck am Pedal an. Nun bekam ich die Anweisung unbedingt mein Tracking-Smartphone abgeben zu müssen. Ich versuchte in die Trikottasche zu greifen, zog dabei aber das Funkgerät heraus und es fiel auf die Straße. Alex sprang geistesgegenwärtig aus dem Auto, hob das Funkgerät wieder auf, rannte neben mir her. Verknüpfte Headset und Handgerät wieder miteinander und konnte auch das Tracking-Smartphone ergreifen. Was für ein aufopferungsvoller Einsatz vom Team für mich, das wurde mir hier abermals bewusst. Bereits am Gavia, sprang Alex aus dem Auto, als mit die Kette runter gefallen war. So konnte ich mich stets auf das wesentliche konzentrieren. Treten, Treten, Treten.
Ich hatte das Gefühl je höher ich kam, desto einfacher wurde es für mich im Vergleich zu meine Mitstreitern. Die Höhe scheint mir besser zu liegen. Der Kopf war wieder eingestellt. Purer Fokus. „Nein, ich fahre hier nicht auf 22 Stunden, sondern um den Sieg“, wurde mir immer mehr bewusst.
Von Nachtfahrten halte ich ja eigentlich nicht so viel, aber wann bietet sich in den Alpen schon die Gelegenheit so ganz ohne Verkehr auf die Pässe zu fahren? Der Mond schien etwas, wodurch sich leicht die Umrandung der umgebenden Bergmassive abzeichnete. Höchst eindrucksvoll war das, obwohl praktisch keinerlei visuelle Eindrücke von der Landschaft am Bernina hinterbleiben. Abgefahren.
Kurz vor der Passhöhe blickte ich nach unten und sah keine Lichter. Das gab mir Zuversicht noch einen sicheren Vorsprung auf Walter zu besitzen. Auf der Passhöhe zog ich Überschuhe, Windjacke und Handschuhe an. Zwei volle Flaschen. „Gutes Gewicht für die Abfahrt“, meinte Jens. m*g* irgendwas = Hangabtriebskraft überlegte ich schnell. Ja, dann wird das schon gut sein. Was für eine geniale Idee, die bringt es sicher. Haha, alles Blödsinn und nicht entscheidend, aber es war ein Zeichen dafür, wie ich immer mehr der Fremdsteuerung durch meiner Crew vertrauen konnte, weil ich wusste, dass sie alles richtig machen würde. Ein sicheres Gefühl der Geborgenheit wurde mir vermittelt. Die Sicherheit wich in mir auch nicht, als Romans Teamauto plötzlich auf der Passhöhe auftauchte. Ich wusste die Abstände waren größer und vertraute meinen Fähigkeiten: Möglichst viel Watt pro kg auf den Asphalt zu pressen. „Die gewichtsbezogene Leistung, die ich mit 60 kg bringe, sollen die anderen erstmal bringen“. Ich fuhr vom Bernina nach La Punt. Abfahrt würde ich es nicht nennen, dafür war das Gefälle zu gering, ich musste ordentlich im Wind rödeln, während hinter mir die Schweinekarre Fernlicht spendierte.
La Punt, Albula von der leichten Seite. Keine Hürde. Das Bergfest sollte auch schon geschafft sein. Ab jetzt wurden die Stunden nicht mehr vorwärts gezählt, sondern der Countdown zählte bis ins Ziel zurück. Zurück ging auch die Temperatur. 3 Grad auf dem Albula. Zeit für ein Kopftuch. Ich lag immer noch vor meinem Zeitplan und wähnte mich in sicherem Vorsprung. Die Abfahrt sollte das Blatt aber wenden. Der Puls sackte ab, der Kreislauf fuhr herunter. Mit zwei Stück Schokakola und etwas Cola kamen die ersten koffeinhaltigen Nahrungsmittel zum Einsatz, auch wenn ich lieber komplett auf solche Mittelchen verzichtet hätte. Trotzdem, die Müdigkeit machte sich breit. Nicht ungefährlich in so einer Abfahrt, wo es links auch mal locker 100 m senkrecht über Straßenbegrenzung bergab gehen kann. Tiefpunkt Nummer zwei also im RATA für mich. Furchtbar war der Gedanke an den Zieher nach Davos. Ich wollte nur noch schlafen. Die ersten Höhenmeter nach Davos nahm ich noch in Angriff. Ich haderte. Eigentlich ging es mir besser, aber ich war bequem und hielt bei der nächstbesten Straßeneinbuchtung an. Ab ins Auto, wo es natürlich nicht besser wird. Aber man genehmigte mir einen 5 minütigen Powernap. Das heißt bei mir soviel, wie Augen zu und nicht schlafen können. Totenstille bei meinen Betreuern. Ich hätte da auf’s Jämmerliche versacken können, Momente der Unfokusiertheit. Doch mein Team war gnadenlos, „Noch 2 Minuten“, „So 5 Minuten sind um“. „Robert, du musst wieder auf den Bock!“ und als dann von hinten Sageder und Hermann heran kamen, war mir auch klar, dass ich nun wieder weiter müsse. Weiter, es half nichts. Ich quatschte mit den beiden etwas, sie waren bestens gelaunt und munterten mich auf. Sie fragten, ob ich der Führende beim RATA sei und quasselten was von… „Wir wollen uns hier nur die ersten beim RATA anschauen, wir sind Freunde von Roman Herman“.
Da musste ich überlegen…
„Du bis doch aber Roman, oder nicht?“
„Nein, ich bin ein Freund von Roman und bin früher mal Rennen gefahren.“
„Also du bist nicht Roman? Aber du siehst doch aus wie Roman und hast die gleiche Hose an!?“
„Nein, wirklich nicht. Wir machen hier nur eine Nachtfahrt“
Langsam realisierte ich, was Sache ist. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Als Roman’s Kumpel mir dann noch sagte, dass ihnen mein Tempo nun zu schnell werde, baute mich das endgültig wieder auf. Ich habe keine Ahnung mehr, wie die beiden heißen. Falls sie diesen Bericht zu lesen bekommen, dann möchte ich Euch hiermit ein großes Dankeschön aussprechen. Ihr habt mich wieder auf Kurs gebracht. Richtung Davos war wieder Druck auf dem Pedal. 200 Watt etwa. Thomas berichtete über Funk von engen Abständen hinter mir und ich solle weiter Druck machen. „Mache ich!“. Die Strecke nach Davos, ebenso wie die Auffahrt zum Flüela verliefen sehr kurzweilig. Langsam wurde es hell. Ich konnte mich umdrehen, hinab blicken auf die letzten Kehren und niemand war zu sehen. Die Abfahrt nach Zernez war endlich eine genau nach meinem Geschmack. Rollte prima und war einfach zu fahren. Mit Cola im Tank war die Müdigkeit nun auch kein Problem mehr. Ich denke es half schon, das ganze Jahr auf koffeinhaltige Produkte wie Kaffee und Cola weitestgehend zu verzichten, um auf möglichst geringe Mengen, wir sprechen hier von etwa 1,5 l Cola, die ich während des RATAs getrunken habe, sensitiv zu reagieren. Ova Spin und Ofenpass rollten auch wieder halbwegs.
Oben wurde das Licht abmontiert. Ich wusste ein Sieg beim RATA kann sich hier ausgehen, auch wenn ich nun berghoch immer ein paar Minuten auf meine Marschtabelle verloren habe. Es fiel auch kaum ins Gewicht, weil ich bergab Zeit aufholte. Thomas kündigte mir nun den Besuch von Enno an. Enno – Ennogy, das legendäre Kampfschwein aus Dresden, gerade mit seiner Frau im Urlaub im Val Mustair. Er wollte mich am Umbrail treffen. Für mich eine unglaubliche Motivation. Und da stand er auch schon vor Santa Maria am Straßenrand mit einer frischen Cola in der Hand. Meine Crew hatte ihn noch angerufen, Nachschub zu besorgen. Im Vorfeld dachte ich, eine Flasche von dem Teufelszeug sollte ausreichen. Mein Team funktionierte und merzte meine Fehler aus. Da war sie wieder, die Sicherheit, die die Schweinekarre und das Team hinter mir ausstrahlte.
Umbrail unten rein ging kurzzeitig wieder nicht viel bei mir. Wie so oft, wurde es aber im Laufe des Anstiegs immer besser und ich konnte mich auf 190 Watt einpendeln.
Die Passhöhe vom Stelvio geriet allmählich in mein Blickfeld. „Wenn ich da oben bin, habe ich es fast geschafft“. Mir wurde von steigenden Vorsprüngen erzählt. Den Umbrail erklomm ich also mit etwa 900 Hm/h. Die Fahrzeit war mittlerweile relativ lang. Dadurch nimmt man Abschnittszeiten, zum Beispiel für die 1100 Hm am Umbrail, relativ gesehen, als sehr schnell vergänglich war. Eine Metapher auf das Leben, das ja auch mit jedem Lebensjahr schneller zu rasen scheint. Ja, Zeit zum Nachdenken hat man beim RATA genügend, aber mehr als oberflächliche Gedanken lässt der Sauerstoffmangel und Brei im Kopf dann doch nicht zu.
Auf dem Stelvio ereilte mich das Gefühl, was mir vor einen Jahr Gänsehaut bescherte. Die Geschichte von dem Radfahrer, der 13000 Hm durch die Alpen radelt und kaum einer weiß davon. Da steht man auf dem Stelvio und außer Rennleitung und meine Betreuer weiß eigentlich niemand auf dem Stelvio Bescheid, was hier gerade Sache ist. Das Gefühl unbemerkt, aber vor den Augen von den anderen was besonderes zu leisten, taugt mir sehr in dieser Welt, wo Schein oft mehr wert ist als Sein.
Ich zog nun das rosa Gilet aus. Trank viel Cola, meine Kohlendydtratplempe und begab mich in die Abfahrt mit den 48 Kehren. Bei Kehre 28 merkte ich erstmals die in mir aufkommende Übelkeit. Mit jeder Kehre wurde es schlimmer. Ich bin im wahrsten Sinne ein ganz übler Achterbahnfahrer.
Über Funk hörte ich etwas von der Erreichbarkeit des Streckenrekords. Ich wusste insgeheim darüber schon seit der Umbrailauffahrt Bescheid und rechnete schon einige Zeit im Kopf, aber in dem Moment war mir einfach nur noch kotzübel und ich wollte nichts davon über Funk wissen. Angekommen in Prad musste ich anhalten. Ich setzte mich ins Auto. Trank erneut viel Wasser und sah da in der Tasche vom Vordersitz noch ein Gel, was mich anlachte. Ich nuckelte kurz daran und schon konnte ich meinen Mageninhalt nicht mehr zurück halten.
Mitten auf dem Marktplatz von Prato und vor den Augen von ein paar Café-Besuchern übergab ich mich dreimal. Zum Glück ernährte ich mich flüssig, da hielt sich die Sauerei in Grenzen. Etwa 10 Minuten verlor ich dadurch, aber danach ging es mir besser. Hilde gab mir ein Stück vom Hefezopf. Das schmeckte nun sehr gut. Ich rechnete mir nunmehr wenige Chancen auf den Streckenrekord aus und Walter Sageder sollte wohl auch nicht mehr weit weg sein. Wieder auf den Bock gestiegen. Hauptsache vorwärts. Aber es ging nicht weit. Die Bahnschranke war unten und kein Zug in Sicht. Nach ein paar Minuten kam der Zug endlich, aber hielt erstmal am Bahnhof noch vor der Schranke an. Ich führte das Rennen seit dem Gaviapass an. „Nein, bitte, bitte, nicht jetzt. ich möchte das RATA hier nicht mehr verlieren“. Ich hatte plötzlich Versagensängste. Nach endlos erscheinenden gut 4 Minuten öffnete sich zum Glück die Schranke und ich fuhr kontrollierte Offensive nach Mals. 210 Watt. Das muss reichen. Auch am nun endlos erscheinenden Anstieg nach Fischerhäuser, hielt ich immer die 210 Watt aufrecht. Der Wind wehte zum Glück nicht allzu stark von Norden und das Gehupe der genervten Autofahrer nahm ich als Anfeuerung von Fans auf, so ging dieses elende Stück Straße zu ertragen. Oben in Fischerhäuser wurde mir etwa 15 bis 20 Minten Vorsprung ins Ohr geflüstert. Zu Hause saßen die Fans gespannt am Liveticker und stoppten via Tracking die Zeiten und teilten sie uns mit. Danke für die Hilfe Peter! Nun hätte ich die Sache genießen können, aber ich prügelte im Unterlenker Richtung Rechenpass.
Vor dem RATA hatte ich mir das Bild von den letzten Kilometern nach Nauders fest ins Hirn gebrannt. Nun war es tatsächlich soweit. Unfassbar für mich. „Robert, du bist erster deutscher Gewinner vom RATA. Robert, du bist ein Radsportgott. Wahnsinn“. Thomas mit genau der richtigen Unterhaltung im Ohr, damit ich wenigstens etwas realisieren konnte, was ich da gerade geleistet habe. Trotzdem, weitgehend emotionsfrei fuhr ich durch Nauders. Ich blickte mich kurz um, in der Schweinekarre wurde bereits gefeiert. Rechts an der Tankstelle abgebogen und das Hupkonzert begann. Die Stimmen von Othmar und Martin ertönte vom Zielbereich. Die letzte Kurve und dann stand ich auf der Ziellinie, vollkommen versifft und nach der Aktion von Prato bestimmt auch übel riechend und wusste nicht so recht wie mir geschah. Haha, aber ich war überglücklich über das erreichte. Das war sie, die Geschichte vom RATA 2015.
Ich möchte mich ganz besonders bei meinen Jungs bedanken. Ihr wart die geilste Crew, die ich mir vorstellen konnte. Gallo, Hilde, ihr habt dafür eure Ambitionen beim Dreiländergiro am Sonntag fallen gelassen. Ich werde euch dafür immer dankbar sein. Hilde fast 22 Stunden am Steuer von seiner Schweinekarre. Eine unfassbare Ausdauer. Jens, die Mutti für alles. Alex sowieso der beste Techniker und aufopferungsvoller Kämpfer. Schön das du dir diese Art bewahrt hast, auch wenn es nun nicht mehr auf dem Bock zur Sache geht. Der Bock. Das Addict mit den Lightweights. Was für ein dekadentes Ersatzrad, es musste nicht zum Einsatz kommen. Trotzdem danke, auch für die Mavic Windweste und Handschuhe.
Und dann ist da Thomas, der Chef und Antreiber. Vor drei Wochen noch mit Schlüsselbeinbruch und eigentlich selbst ein wahnsinnig schneller Radfahrer, der dieses Jahr beim DLG vielleicht unter die Top 5 hätte fahren können. Er hatte die Sache immer unter Kontrolle, initiierte die Beklebung der Schweinekarre, stellte mir Funkgeräte, sein edlen Rapha-Zwirn und die Lupine Piko zur Verfügung. Auch glaubte er stets an das ganze Große. Vor ein paar Monaten fachsimpelten wir noch über den Rennablauf. Damals sagte er, ich würde bestimmt schon am Gavia in Führung liegen. Ein Traum für mich, nicht mehr damals, der nun in Erfüllung ging, aber sich immer noch wie ein Traum anfühlt.
Wahnsinn, was mit sauberen Sport möglich ist, wenn man über Jahre zielstrebig seine Ziele verfolgt (übrigens: wir reden hier von Jahresumfängen zwischen 14 000 und 19 000 km). Ich sage das hier ganz bewusst, nicht um mich in den Vordergrund zu stellen oder zu profilieren, sondern weil Sport und explizit der Radsport doch sehr eng mit Betrug und Dopingmissbrauch in Verbindung stehen. Der Generalverdacht bei guten Leistungen hat sich in der Vergangenheit des öfteren bestätigt. Auch gibt es sicher noch einige, die meinen Doping gehöre zum Sport, wie die 48 Kehren zum Stilfser Joch. Von daher appelliere ich an jeden Radsportler sauber seine Leistung zu erbringen und dies auch offensiv zu verkünden, wenn dies der Fall ist, damit Betrüger im Radsport endlich kapieren was Sache ist. Dopingtests beim RATA hätten mich natürlich gefreut, aber ich kann die Organisatoren auch verstehen, da dies ein erheblicher finanzieller Aufwand ist. Ich würde allerdings sogar so weit gehen, das durch ein mehr an Startgeld und ein weniger an Preisgeld zu finanzieren. Vielleicht könnte man darüber mal Diskussion führen und wie die Bereitschaft der Teilnehmer dafür ist.